Alpin – Juni 2016

Alpin – Juni 2016

Ernte-Dank

Für Bergbauern bedeutet der Sommer vor allem harte Arbeit. In Südtirol vermittelt ein Verein Urlauber an Höfe, wo ihre Hilfe gefragt ist – ein Gewinn für beide Seiten.

Bei der vierten schweren Fuhre kann ich es eigentlich nicht mehr hören: Dieses langsame Flatschen von zig Kilo Kuhmist, die frisch dampfend, zähflüssig und stinkend von der Schubkarre gleiten und sich mit dem vorhandenen, noch viel riesigeren Haufen Kuhmist vereinen. Andererseits muss das der schönste Panorama-Misthaufen der Welt sein. Hinter dem Stall schweift der Blick weiter über die sattgrünen Sommerhänge oberhalb, hinaus über die Ahr und das Tal, das sie hier über Jahrtausende geformt hat bis hinter zum wolkenverhangenen Kronplatz im Süden, während sich die ersten Sonnenstrahlen des Tages mühsam durch die graue Decke kämpfen und einzelne Spotlights in die Landschaft setzen. Eigentlich kann der Kuhmist von mir aus also ruhig noch langsamer vor sich hin flatschen.

Für eine Woche helfe ich beim Heumachen am Oberpursteinhof oberhalb von Sand in Taufers im Nordosten Südtirols. Koordiniert werden die Einsätze vom „Verein Freiwillige Arbeitseinsätze“ der jedes Jahr mehr als 2000 Helfer an Südtiroler Bergbauernhöfe vermittelt. „Das ist schon eine halbe Armee“, freut sich Obmann Georg Mayr. Über 300 Höfe fragen mittlerweile jedes Jahr nach Hilfe, aus den unterschiedlichsten Gründen: weil jemand im Haushalt fehlt, jemand, der auf die Kinder aufpassen muss, ein Gebäude saniert wird oder einfach zur Erntezeit jede helfende Hand gebraucht wird. Monika Thaler sorgt im Verein dafür, dass Helfer und Hof zusammenpassen. „Es bringt ja nichts, wenn wir einen kräftigen Waldarbeiter an einem Hof vermitteln, der Hilfe in der Küche braucht, oder eine junge Frau dahin, wo es gerade einen kräftigen Mann braucht.“

Mich hat sie für die Familie Volgger auserkoren. An kräftigen Männern fehlt es dort allerdings nicht. Im Flur des Hauses reihen sich rund 50 Pokale aneinander – die meisten davon hat Vater Reinhold beim Ranggeln gewonnen, ein paar auch beim Bierkrugstemmen. Die Kraft dazu holt er aus diesen gewaltigen Muskelbergen rund um seine Oberarme und seinen Brustkorb. Sohn Hannes steht ebenfalls gut im Saft und auch die beiden noch am Hof lebenden Töchter Daniela und Katharina packen fleißig mit an. Allerdings liegt der Oberpursteinhof so steil an der Ostseite des Speikboden, dass die Volggers kaum auf Maschinen setzen können, zum Heumachen im Sommer ist deshalb Unterstützung gefragt.

Heute Morgen allerdings hat der Regen gewonnen, am nassen Hang macht die Arbeit keinen Sinn. Zu tun bleibt trotzdem genug. Stall ausmisten, neues Stroh für die Kühe einstreuen, Hühner versorgen, notfalls die Zufahrt neu schottern. Katzen aller Größen schlürfen derweil genüsslich ihren Anteil der morgendlichen Melkausbeute und Hund Josy zerfieselt stoisch in seiner Hütte einen Knochen. Bauer Reinhold sagt an, was man tun könnte, befehlen würde er nie etwas. Behutsam versucht er, die Mitte zu treffen zwischen Hofidylle und Arbeit. Romantisch verklärter Urlaub auf dem Bauernhof soll der Freiwilligeneinsatz nämlich genauso wenig sein wie unbezahlte Dauerschufterei. „Die Bauern müssen sich immer wieder auf Fremde einstellen, die in ihr Privatleben eintreten, müssen Geduld haben, zeigen, wie es geht.“, sagt Monika Thaler. Das sei ihnen hoch anzurechnen. Auf der anderen Seite bekämen sie Hilfe, „und die Freiwilligen nehmen viel mit: Dass man auch einfach leben und trotzdem glücklich sein kann, die harte Arbeit, das Schwitzen, das Dankeschön“.

Die Kühe stört das schlechte Wetter wenig. 14 Stück sind es, jede hat ihre Eigenschaften. „Großbetriebe wollen Kühe, die morgens und abends am besten 25 Liter Milch geben, die schmeißen ihre Tiere mit vier, fünf Jahren raus. Da hat die Kuh kein leben. Wir haben Milchkühe, die sind neun oder zehn Jahre alt“, sagt Katharina, während sie die Tiere geduldig den steilen Hang hinab von der Weide zurück in den Stall treibt. 25 Liter auf einmal gibt keine von ihnen. Insgesamt kommt Reinhold auf etwa 230 Liter pro Tag. Die wuchtet er dann morgens in seinen weißen Transporter und bringt sie runter nach Sand in Taufers, gemeinsam mit der Milch, die er zuvor von den anderen Höfen aus der Umgebung eingesammelt hat. Im Tal holt sie der Milchlaster der Molkerei aus Bruneck, binnen Sekunden ist sie durch den Schlauch im Kühlanhänger verschwunden. Der Ertrag eines Tages weggesaugt in ein paar Sekunden. Da ist er, der Kontrast zwischen Bergbauernleben und Industrie. Der Unterschied zeigt sich auch beim Heumachen. Was im Tal riesige Mähmaschinen erledigen, ist am Berg anstrengende Handarbeit. Das einzige Hilfsmittel in diesem Fall: Ein Holzrechen mit einem möglichst langen Stiel. „Damit die Arbeit immer schön weit weg ist“, sagt Reinhold, als er tags darauf lachend das Arbeitsgerät an seine beiden Töchter und mich austeilt. Den Hang hat Hannes schon gemäht, jetzt muss das trockene Gras zusammengetragen werden. Zu viert am Hang versetzt, recht jeder seinen zehn, zwanzig Meter breiten Abschnitt von oben nach unten bis zum nächsten Fahrweg, der den Hang alle paar hundert Meter unterbricht. Ich brauche den Rechen auch noch ab und an, um nicht vom Hang zu fallen, Familie Volgger bewegt sich dagegen so sicher durchs Gelände wie andere durch ihren Vorgarten. Wie in einer eingespielten Choreographie räumen sie schnell, präzise und still die Wiese ab. Mit jedem Meter wird der Haufen unter dem Rechen üppiger, zu hören ist nichts außer dem Kratzen des Rechens durch das Gras und dem Gebimmel der Kuhglocken. Ein bisschen ist es wie das Rechen eines rieseigen Sandkastens, nur eben steil hangabwärts. Schweißtreibend, aber trotzdem mit der beruhigenden Wirkung eines alpinen Zen-Gartens. Unten auf dem Weg rechen die Frauen das Gras in die Mitte, Reinhold fährt die Linie mit dem Heulader ab, der es automatisch in den Hänger zieht. Ruckzuck ist der Ertrag des Hangs in nur einer Fuhre verstaut – etwas enttäuschend für den Neuling, für den Profi aber ein große Erleichterung. „Wenn ich 15 Jahre zurückdenke, da habe ich das alles noch auf den Schultern zurückgetragen“, sagt Reinhold. Trotzdem ist das Heu noch immer ein hohes Gut, verschwendet wird nichts davon. Während der Wagen im Schritttempo zum Hof zurückrollt, kehren Katharina und Daniela akribisch die Reste zusammen.

So geht es die nächsten Tage Hang für Hang: Was Hannes am Vortag gemäht hat, rechen wir zusammen, Reinhold fährt es zum Hof. Manche Wiesen sind aber selbst für die erfahrenen Maschinenlenker einfach zu steil. Einige Ecken kann weder Hannes mit seiner neuen Hightech-Mähmaschine noch Vater Reinhold mit dem älteren, aber etwas handlicheren Modell erreichen. Dann muss, wie schon vor hundert Jahren, die Sense her. Mit der Zeit fangen die Füße an zu schmerzen, Amre und Oberschenkel werden schwer, die Schwielen an den Händen werden größer. Aber ab und an folgt der Blick dann doch einem Stein, der den Hang hinunterrollt, oder einem Hubschrauber, der hier häufiger unterhalb als oberhalb vorbeifliegt, und fällt auf den Moosstock gegenüber oder auf die Zillertaler Berge mit dem schneebefleckten Schwarzenstein im Norden – und schon ist es nur noch halb so mühsam.

Das scheint sich auch nach vielen Jahren nicht zu ändern. Reinhold ist mit seinem Hangabschnitt gerade fertig, hinter ihm fährt Hannes den vollen Transporter zum Hof, links neben ihm im Hang rechen die Töchter große Haufen Heu hinter sich her. Am Wegesrand geht er in die Hocke, knetet eine Handvoll trockenes Gras und schaut irgendwo zwischen Burg Taufers und Kematener Kirchturm ins Grüne. „Wenn das mal nicht schön ist“, sagt er. Von hier oben hat er in den vergangenen Jahrzehnten vieles mitverfolgt. Die Entwicklung des Industriegebietes, in dem jetzt so viel leer steht, das Wachstum der Dörfer links und rechts der Ahr – und auch die der Landwirtschaft: „Wenn die in der Ebene loslegen mit ihren Riesen-Maschinen, das ist schon gewaltig. Aber bei uns hier oben geht das nicht gut. Ich bin eh der Meinung, irgendwann ist es mal ausgereizt. Es kann nicht immer noch größere Maschinen geben. Das gibt nur mehr Unfälle“, sagt er.

Wer sieht, in welchem Gelände die Bauern hantieren, glaubt das sofort. Wenn Hannes im schwarzen „Fast Moving, rock the raod“ – T-Shirt den Traktor rückwärts über die schmalen Feldwege am Hang manövriert, kann selbst Mutter Klothilde oft kaum hinsehen. „Das ist nichts für mich“, sagt sie und geht lieber wieder nach drinnen. Sie muss noch die Gästezimmer im zweiten Stock herrichten, mittags kommen Gäste. Familie Volgger ist ständig in Bewegung – das muss sie, damit es so funktioniert, wie es funktioniert. Mutter Klothilde schmeißt neben dem Haushalt auch die Gästebewirtung und die kleine Hofschänke, Reinhold fährt nebenbei die Milch der anderen Bauern ins Tal und im Winter die Schneeräumer. Daniela ist eigentlich auf der Kochschule, hilft in den Ferien aber wo sie kann, Katharina arbeitet von morgens bis mittags in einem Hotel in Sand in Taufers, Hannes muss noch früher raus – zur Frühschicht bei GKN in Bruneck, Antriebswellen für Landwirtschaftsmaschinen zusammenbauen, 300 pro Schicht. Danach geht es aufs Feld. Bergbauernbetriebe sind empfindliche, gut durchstrukturierte Familiengeflechte. Fällt einer aus, reißt das ein Loch.

Und trotzdem, oder gerade weil das so ist, finden Volggers auch noch die Zeit für eigene Arbeitseinsätze. Tageweise helfen sie auf anderen Höfen. Alten, alleinstehenden Bauern etwa oder verwitweten Bäuerinnen, deren Männer bei der Holzarbeit umgekommen sind. „Reinhold ist ein echtes Vorbild, das ist gelebte Solidarität“, sagt Vereins-Obmann Mayr. Reinhold selbst sieht das pragmatischer: „Ich freue mich immer, wenn ich angerufen werde und es fremde Höfe sind, da lerne ich was Neues kennen und sehe wie andere arbeiten. So bin ich schon in ganz Südtirol rumgekommen“, sagte er. Trotzdem freue er sich natürlich über das Dankeschön am Ende. Das gehe ihm durch den ganzen Körper.

„Ich komme zufriedener nach Hause. Wir haben eine Spülmaschine, eine Waschmaschine, einen Trockner. Schon das haben viele andere nicht“, sagt Klothilde. Auch Reinhold ist einer, der gerne das Positive sieht. Wenn es am Morgen regnet, ärgert er sich nicht, weil wir nicht auf Feld können, sondern freut sich über das, was wir gestern vor dem Regen noch alles geschafft haben. Wie schnell es gehen kann, selbst in Not zu geraten, haben sie vor gut zwei Jahren gesehen. Beim Bergsteigen hat eine Arterie in Reinholds Brust zugemacht, eine knappe Angelegenheit. Vielleicht ist auch das ein Grund für den unermüdlichen Fleiß der ganzen Familie, für die lebensbejahende Energie, die Hilfsbereitschaft und die Freude über die Freude anderer: Der unerschütterliche Glaube daran, dass dem, der Gutes tut, selbst Gutes widerfährt, und die Hoffnung, dass es das Schicksal dann noch eine Weile gut mit ihnen meint.

Nach der x-ten Ladung Heu lenkt Reinhold den Transporter wieder im Schritttempo über den Feldweg hangabwärts. 100 Meter weiter unten pflügt Hannes in der späten Nachmittagssonne mit seiner orangen Mähmaschine durch den mit weißen Wiesenbärenklau-Blüten durchzogenen Hang, ein Stück weiter drüben stehen Katharina und Daniela im Heu, lila-weißes T-Shirt, rotes Cap, türkise Hose, rosa Cap. Im Hintergrund schneebedeckte Gipfel vor blauem Himmel – vom Beifahrersitz aus sieht es so aus, als würde Reinhold direkt in ein modernes Van-Gogh-Bild steuern. Nur dass dieses hier immer in Bewegung bleibt.