01 Mrz Geo Special – März 2016
Knecht auf Zeit
Eine Woche als Helfer beim Bergbauern
Knochenarbeit statt Heidi-Idyll: Unser Autor hat freiwillig auf dem Montferthof in Südtirol geschuftet. Melken, Schafe suchen, Zäune reparieren: Die Arbeit war hart und schmutzig – aber auch ein handfestes Glück.
Ist es da? Nein nur ein Lichtreflex. Also weiter. Die Latschen knacken unter den Füßen. Das ist nicht gut, so kann es uns hören. Also leiser schleichen. Jetzt hebt es kurz den Kopf in unsere Richtung. Edi bedeutet mir mit dem Finger, einige Schritte weiter unten voranzugehen, er steigt ein paar Meter bergan, flink wie eine Gams – vergebens: Das Schaft ist wieder entwischt. Bergwärts, talwärts? Wir wissen es nicht. Die Kirchglocke läutet herauf, zehn Schläge, elf, zwölf. Zeit fürs Mittagessen. Muss das Schaft halt ein, zwei Tage warten. Oder von allein seinen Weg zurück auf die Weide finden. Wir kehren um. Nach Hause, auf den Montferthof.
Hoch droben im Südtiroler Schnalstal, im Schatten von Texelspitze und Gingglspitz, wie hingepappt an die Grashänge, 1475 Meter über dem Meeresspiegel und meist knapp unter den Wolken, da, wo es kein Geradeaus mehr gibt, sondern nur noch Hinauf oder Hinab: Da ist der Montferthof. Nach dem rätoromanischen Wort für „grüner Berg“. Edi, der amtlich Eduard Ilmer heißt, hat hier sechs Hektar, zusammen mit seiner Frau Edith, mit sechs Kindern, mit Kühen, Ziegen, Schafen einen Unitrac 65 von der Traktorenwerken Lindner und mit einer Tuba aus Goldmessing. Viel mehr ist es nicht. Aber genug zum Leben in den Bergen.
Ich helfe mit auf dem Montferthof, als Knecht auf Zeit, habe mich für das Freiwilligenprogramm der Südtiroler Bergbauernhilfe angemeldet und wurde Edi zugeteilt. Helfe im Stall, beim Zäune-machen – und heute beim Schafesuchen. Was im Frühherbst eben so anfällt. Manchmal bin ich eine große Hilfe. Häufig eine kleinere.
Händewaschen, Tischgebet, Ave Maria unter der Luftballonkette zu Edis 47. Geburtstag vor ein paar Tagen, eine Knödelsuppe, ein Teller Nudeln, und dazwischen ein paar Worte mit der Bäuerin gewechselt. Dann schnürt der Bauer die Bergstiefel, es geht wieder hinaus. Zigarette zwischen den Lippen mit strammen Schritt hinauf durch die Lärchen, die Wasserleitung muss winterfest gemacht werden. Ab und zu hebt Edi seinen lockigen Kopf, schaut aus zusammengekniffenen Augen skeptisch in die Wolken: Hält das Wetter fürs Heuen? Er hebt den Finger, jetzt höre ich es auch, das hohe „klüklüklüklüklü“. „Das ist der Buntspecht. Wenn der viel lacht, gibt es Regen!“ Und steigt weiter seinen Pfad bergan.
Mit den Menschen redet der Bauer nur das Nötige. In kurzen Sätzen, mit einem kehligen „ch“, wie man es auch im Tiroler Ötztal und im Lechtal kennt, nördlich der Berge. „Chomschamolumi!?“, sagt Edi, auf Hochdeutsch: „Komm mal her!“ Er hackt das Erdreich auf, ich schaufle die Steine weg. Das Wasserrohr war verstopft und verschoben, die Lawinen im Winter hätten es mitreißen können. „Aber wir brauchen das Waser, fürs Vieh, für den Strom und zum Kochen“, sagt Edi. Je mehr Strom man im Generator selber machen kann, desto weniger muss man zukaufen, desto unabhängiger, desto freier ist man hier heroben.
Armer Stein. Armes Erdreich. Arme Hacke. Denkt man, wenn Edi arbeitet: Jede Faser seines Körpers will die Erde zerhauen für die neu verlegte Leitung. Im Takt eines Metronoms reißt er die Hacke in die Luft und lässt sie glich wieder niedersausen. Ich komme mit dem Schaufeln kaum hinterher.
320 Südtiroler Bergbauern haben freiwillige Helfer angefordert, fast 2400 haben sich gemeldet – so wie ich. Zur Hälfte sind es Männer, die sollten kräftig sein und schwindelfrei, für die Arbeit auf dem Feld und im Stall. Die Frauen kümmern sich um Küche und Garten. Manche kommen seit Jahren auf denselben Hof, im August zum Heuen, im Januar zum Holzen oder irgendwann, um zu tun, was eben zu tun ist. Die meisten sind aus Deutschland, Angestellte, Beamte, Arbeitslose. Und gar nicht wenige sind Bauern, auch aus dem Südtiroler Unterland – weil sie helfen wollen, dass die Menschen weiterhin nicht nur am, sondern auch vom Hof Leben können.
Monika Thaler ist auf Besuch vorbeigekommen. Die Schuhe sind ein wenig zu fein für Montfert, der Dialekt aber passt – sie stammt selbst von einem Südtiroler Bergbauernhof und leitet den Verein „Freiwillige Arbeitseinsätze“, den Caritas, Bauernbund und andere Träger gemeinsam gegründet haben. Mir hat sie, wie allen anderen Helfern auch, eine blaue Schürze mitgebracht, wie sie die Bauern hier tragen. Als Dankeschön. Ansonsten arbeiten wir unentgeltlich. Weil wir helfen, körperlich arbeiten, uns verwirklichen wollen – oder warum auch immer. Mich hatte Thaler vorab nach Allergien oder Behinderungen gefragt, ob ich schwindelfrei sei, Erfahrungen im Stall habe. Und mir aufgetragen, Gummistiefel, Arbeitskleidung und Handschuhe mitzubringen. Untergebracht haben mich die Ilmers im Tagwerkerhäuschen, wo früher der Schuster oder der Weber bei ihren Arbeitsbesuchen auf dem Hof hausten. Waschen im Haupthaus, Essen in der Kuchl, dem Reich der Bäuerin.
Die Wasserleitung ist gerichtet, der Winter kann kommen. Auf dem Weg zum Hof treiben wir die Schafe von der Weide. Das verlorene Schaf ist auch dabei, irgendwie hat es zurückgefunden. Dann wird gemolken. Neun Milchkühe hält Edi derzeit, für den Stall wäre man besser zwei Köpfe kleiner. Ich schlage mir laufend den Schädel an. Edi geht gebückt. „Hoi, hoi, hoi.“ Mit sanftem Tätscheln und fast zärtlichen Rufen beruhigt Edi die Tiere. Die rohe Kraft, die Gewalt, mit der er Hacke und Schaufel in den Boden rammt – sie sind verschwunden. Er tätschelt seine Gamsa, seine Traube und vor allem seine Dalia, die Lieblingskuh, spricht mit ihnen eine Sprache, die nur er versteht – und vielleicht auch die eine oder andere Kuh.
Im Stall ist immer das Gleiche zu tun: Licht an. Ausmisten. Heu verteilen. Maismehl verteilen. Kühe an die Kette. Milchkanne und Eimer putzen. Euter desinfizieren. Melkmaschine anlegen. Milch aus dem Eimer in die Kanne schütten. Kanne ins Tal drahteln, also mit der Seilbahn hinunterfahren. Milchkanne und Eimer putzen. Licht aus. Jeden Tag, bei Schnee und Hitze, einmal um 7.15Uhr und einmal um 17.30Uhr. So macht Edi seien 30 000 Liter Bio-Milch pro Jahr.
Aber dieser beamtenhafte Teil bestimmt bestenfalls die Hälfte der Bergbauerei. „Ich muss viel improvisieren, kein Tag ist wie der andere „, sagt Edi. Sind ein paar Tage Sonne angesagt. Alles stehen und liegen lassen für das Heu: Denn nur, wenn das Gras trocken geschnitten und eingefahren werden kann, haben die Kühe genügend Futter über den Winter. Hat ein Schaf ein Loch im Zaun gefunden: Schaf finden, Zaun flicken. Stürzt eine Kuh auf die Straße: Schlachtmesser holen, Amtstierarzt anrufen, Kuh notschlachten. „Langweilig wird mir nie“, sagt Edi und zündet sich eine Zigarette an. Seine Nikotindepots hat er überall angelegt, im Seilbahnhäusl liegen ein paar Schachteln, in der Garage, im Stall.
Meine Mutter kommt von einem westfälischen Bauernhof. Von dort floh sie und landete im Allgäu. Eigentlich müsste ich also gewisse bäuerliche Fähigkeiten geerbt haben. Aber ich muss dreimal nachfragen, welche Kuh einen Messbecher Kraftfutter bekommt und welche anderthalb. Beim Ausmisten würgt es ich. Und wenn ich mit meinen Tipptoppoutdoorklamotten Edi mit seinem Rucksack aus dem vorletzten Jahrhundert und den Bergschuhen aus dem vorvorletzten hinterhersteige, plagen mich Atemnot und Seitenstechen. Ich als Bergbauer würde mich für solche Helfer bedanken! „Das passt scho“, sagt Edi nur. Was soll er auch anderes sagen? Dummerweise sind Burgauern auf Helfer wie mich angewiesen.
Rund 6000 Südtiroler Bergbauern gibt es noch, Dutzende geben jedes Jahr auf. Sie finden kaum Nachfolger, den Kindern ist die viele Arbeit für das bisschen Geld zum mühselig, sie wollen in die Stadt. „Dabei hat die Landesregierung seit den 1970er Jahren eigentlich viel getan für die Bergbauern“, sagt Monika Thaler: Straßen gebaut, Stromleitungen verlegt, Schulbusse organisiert. Auch von Montfert fährt einer die gut fünf Kilometer nach Katharinaberg – wen nicht gerade zu viel Schnee liegt oder dringend Heu zu machen ist.
Die ältesten Kinder von Edi und Edith arbeiten außerhalb. Marius, der jüngste Bub, kann und darf mit seinen zwölf Jahren schon Traktor fahren und mit dem Hüpfbagger Löcher für die Zaunpfähle rammen. In seinen Freundebuch steht unter Hobbys: „Dem Papa helfen.“ Aber wirklich Bauer werden? „Vielleicht im Tal, wo alles ratzfatz mit der Maschine geht“, sagt Marius. „Hier heroben ist es mir zu mühsam.“ Edi nickt: „Ich hab mich manches Mal gefragt, warum ich mir das alles antue. Aber wenn dann wieder etwas gelungen ist, ein Zaun gerichtet, ein Kalb geboren, ist es halt doch immer wieder schön!“
Gelernt hat er Maschinenschlosser, aber schon als Bub hat er „gealmt“. Und dabei Edith kennengelernt, das vierte Kind auf einem Hof im Nachbartal, der ging an den Ältesten. So haben Sie gesucht und dann, 1996, den Montferthof gefunden. Den Altbauern waren beide Söhne hintereinander weggestorben, sagt Edith, drunten im Tal: Autounfall der eine, Motoradunfall der andere. Die Ilmers bekamen den Hof, die Altbauern das Austragshäusl und Milch und Eider und Fleisch als Leibrente. Weil es für den Jörg, den Bruder des Altbauern, nirgends sonst Platz oder Geld gab, ist er auch noch da und leert vorwiegend Bierflaschen. Auch die Dres, seine Cousine, kam unter auf Montfert. Wo hätte sie schon hin sollen? Sie füttert die Schweine und schichtet das Brennholz.
Wie viel ist den Ilmers von dem freien Bergbauernleben geblieben? Die Milch, die sie ihren paar Kühen abzapfen, muss im Supermarkt gegen die aus brandenburgischen oder polnischen Riesenställen konkurrieren. Warum soll der Kunde die Tschikerls und Tschakerls und Tschukerls, die Edith aus den Mutterschafen gezogen, getauft, geweidet, geschlachtet und dann als Lammkoteletts in der Küche in Vakuumbeutel verpackt hat, in die Pfanne hauen, wenn er auch neuseeländischen Lammfleisch kaufen könnte?
Die meisten Bergbauern haben daher einen zusätzlichen Beruf, und wenn es nur der Skilift ist. Ein Job, von dem sie leben – und den Hof als das, für das sie leben. Edi und Edith aber haben Glück. Das Geschäft mit den Gästen geht gut, es macht vielleicht ein Drittel des Jahreseinkommens aus, schätzt Edit. Montfert liegt direkt am Meraner Höhenweg, der von den Apfelplantagen des Untervinschgaus bis kurz unter die Gletscher der Texelgruppe geht. Einer der Söhne hat eine Website gebastelt. Aber der Hunger und der Durst und die Blasen an den Füßen treiben den Ilmers auch so Wanderer in die Stube. „Und das mit dem Computer und den Fremdenformularen habe ich auch noch gelernt“, sagt Edtih.
Als meine Woche als Knecht um ist, sind meine Hände voller Schwielen. Das Schwarz meiner Hose ist mit dem Braun aus dem Stall zur Tarnfarbe verschmolzen. Beim Ausfahren der Schubkarre zum Misthaufen muss ich nicht mehr würgen. Ich bin so etwas wie angekommen hier heroben. Und muss jetzt gehen. Edith drückt mir ein Stück Almkäse in die Hand – aus der Milch jener Kühe, die wir gestern noch ins Tal getrieben haben. Ich bin gerührt und auch ein bisschen stolz. Edi verabschiedet sich mit einem „Dankschä!“. Und ich will im Sommer wiederkommen, mit meiner Tochter. Damit die lernt, woher die Milch kommt.