15 Apr Rauszeit – April 2020
ERLEBT: Bergbauernhilfe
SINN-VOLLER URLAUB Kann harte Arbeit Urlaub sein?
Für Reinhold Reibl schon. Seit Jahren engagiert er sich – wie Tausende andere – in seinen Ferien bei der Bergbauernhilfe. Ein unverzichtbares Konzept für die jahrhundertealte Almen-Bewirtschaftung. Und Wellness für Körper und Geist der freiwilligen Helfer.
Natürlich hatte Reinhold Reibl so seine Bedenken, als er sich vor drei Jahren das erste Mal bei der Bergbauernhilfe in Südtirol anmeldete. Er, der normalerweise in der bayerisch-schwäbischen Kleinstadt Weißenhorn lebt. Der 34 Jahre lang als Ingenieur für Nachrichtentechnik arbeitete und sich mit Dingen wie elektromagnetischen Wellen und Hochfrequenz auskennt, aber eher nicht mit Heuernte, Holzarbeit und Milchkühen. Der heute sagt: »Das war anfangs schon eine Hürde.« Im Sommer aber wird er, der Nicht-Landwirt, das dritte Jahr in Folge auf einem Bergbauernhof in Südtirol arbeiten. Freiwillig. Reibl ist bei Weitem kein Einzelfall. Genau genommen ist der Frühpensionär einer unter Tausenden Helfern, die im Alpenraum jede Saison hilfsbedürftigen Bergbauern unter die Arme greifen. Alleine in Südtirol zählt der 1997 gegründete Verein Freiwillige Arbeitseinsätze pro Sommer etwa 2000 Anmeldungen und rund 20.000 Arbeitstage durch freiwillige Helfer auf mehr als 300 Höfen. In der Schweiz, wo die Caritas Bergeinsätze seit mehr als vier Jahrzehnten koordiniert und das damit als eine Art Keimzelle der Bergbauernhilfe im Alpenraum gelten darf, waren es 2019 rund 1150 Einsatzwochen. Und selbst das überschaubare Tirol kommt laut dem zuständigen Verein Freiwillig am Bauernhof auf 400 Vermittlungen in 135 Betrieben. Dennoch: Der Bedarf ist noch lange nicht gedeckt. Bei der Caritas Schweiz etwa lautet das Ziel, jedem der 120 registrierten Höfe zumindest während zwei Dritteln der jeweils angefragten Zeitspanne Freiwillige vermitteln zu können. Dabei sind spezielle Vorkenntnisse gar nicht wirklich notwendig. »Die Qualifikation liegt in der Motivation«, sagt Monika Thaler, Koordinatorin der freiwilligen Bergeinsätze in Südtirol.
Heidi-Romantik versus Bergbauern-Realität
Je nach Region können Helfer sogar Wünsche angeben, auf welcher Art Hof sie gerne arbeiten würden. Es trifft sich auch ganz gut, dass die arbeitsintensivste Zeit der Bergbauern im Sommer mit der Hauptferienzeit zusammenfällt. Allerdings: Man sollte sich kein falsches Bild machen. Mit einem Urlaub hat so ein Arbeitseinsatz in etwa so viel zu tun wie ein Bergbauernhof mit industrieller Massentierhaltung. Reinhold Reibl sagt, er sei durchaus ein Mensch, der »die Ärmel hochkrempeln kann« und der seinem Gastgeber auch wirklich mehrere Wochen lang und über dessen gesamten Tag hinweg begleiten wollte. »Aber beim ersten Mal bin ich schon an meine Grenzen gestoßen.« Bei dem 63-Jährigen sah der Almtag in etwa so aus: fünf Uhr aufstehen, Frühstück zubereiten, aufräumen, Abwasch, während der Gastgeber die Stallarbeit erledigt. Dann geht das Schaffen erst richtig los:
Gras mähen, wenden, Heu einbringen – und das alles in Hanglage. Holz sägen, spalten, stapeln. Kartoffeln setzen, pflegen, ernten, je nach Saison. Auch das Abendessen ist längst nicht der Schlusspfiff, weil die 17 Milchkühe im Stall auch noch nach einer kleinen Vesper verlangen. Macht für den Bauern einen Arbeitstag von 17 bis 18 Stunden. Reibl sagt: »Ich habe Wahnsinnsachtung vor ihm. Was der leistet, da bin ich nur ein kleiner Fisch.« Häufig stellt sich für beide Seiten ein gewisser Kulturschock ein, und zwar nicht im Sinne einer »HeidiRomantik«, wie es Bernhard Ackermann von der Caritas Schweiz bezeichnet. Sondern »weil man sein eigenes Universum verlässt«, so Ackermann. »Dieser Austausch von Stadt und Land ist spannend.« Schließlich sind es auch und vor allem jene Bauern mit einer in mehrerlei Hinsicht gewissen Distanz zur Zivilisation, die für die Bergbauernhilfe überhaupt infrage kommen. Viele Höfe könnten ohne diese nicht mehr überleben. Längst hat in der gerne idealisierten Berglandschaft der familiäre und nachbarschaftliche Zusammenhalt nicht mehr jene Bedeutung wie noch vor hundert Jahren. Nicht wenige Bauern sind im Rentenalter, noch dazu ist die Tätigkeit stark saisonal, mit ausgeprägten Spitzen im Sommer, in einem Relief, das maschinelle Hilfe gar nicht oder nur mit großem finanziellen Einsatz zulässt. Heißt: Vieles muss hier noch in Handarbeit erledigt werden. »Wenn
dann noch eine gewisse personelle Situation dazukommt, wie einfach nur eine Schwangerschaft oder ein Bandscheibenvorfall – dann wird es ganz schwierig«, weiß Ackermann.
Wortwörtlich: sinn-voll urlauben
Der Hof, auf dem Reinold Reibl seine Arbeitskraft regelmäßig zur Verfügung stellt, ist beispielsweise der letzte Milchproduzent im Tanzbachtal, einem Seitental des Sarntals, ziemlich im Mittelpunkt Südtirols – und doch in einer anderen Welt auf 1540 Metern Höhe. Der nächste Hof liegt 500 Meter entfernt. Der Bauer ist 70 und verwitwet, seine Lebensgefährtin aus Gesundheitsgründen nur selten auf dem Hof. Zum Talboden, der vom Milchlaster angefahren wird, sind es sieben Kilometer. Bis dorthin sind jeden Morgen die etwa 200 Liter Kuhmilch zu bringen, für die es etwa 50 Cent pro Liter gibt. Ein Mitarbeiter lässt sich damit kaum bezahlen. Immerhin: Helfer erhalten während ihres Einsatzes üblicherweise Kost, Logis und Versicherung. Wer einem wie Reibl zuhört, hat dennoch nie den Eindruck, man müsste auch nur einen einzigen der Arbeitstage bereuen. »Wenn man die Ökologie und das soziale Miteinander in Einklang bringen kann, wie das bei einer Mitarbeit auf einem Bergbauernhof der Fall ist, dann ist das doch eine großartige Sache«, sagt er. Tatsächlich gehört die Bergbauernhilfe zu jenen VolunteerProjekten, denen die Neuordnung der Werte samt der damit einhergehenden Fridays-for-Future-Bewegung in die Karten spielen dürfte: Die Anreise ist – zumindest für Mitteleuropäer – rekordverdächtig kurz; der Nutzen unmittelbar erkennbar, ob nun für den gastgebenden Landwirt oder für die jahrhundertelang gewachsene alpine Kulturlandschaft, die durch das Aufgeben zahlreicher Bergbauern vielerorts im Schrumpfen begriffen ist. Zugleich steht das Angebot fast jedem offen, ob Studentin, Manager oder Rentnerin. So waren im vergangenen Jahr in Tirol die unbezahlten Hofhelfer laut dem zuständigen Verein Freiwillig am Bauernhof im Durchschnitt 38 Jahre alt. 61 Prozent von ihnen waren Frauen, mehr als zwei Drittel kamen aus Deutschland. Gerade der Sommer bietet genügend Beschäftigungen für die verschiedensten Charaktere, sofern diese eine gewisse körperliche Stabilität, eher keinen Heuschnupfen und mindestens eine Woche Zeit mitbringen. Die Südtirolerin Monika Thaler weiß von einer Person, die seit mehreren Jahren dreimal pro Saison anrückt und ihren gesamten Urlaub auf Bergbauernhöfen investiert. Auch Reinhold Reibl wird wieder für zwei Wochen auf den Hof im Herzen Südtirols fahren. Aber die Zeit dort ist nicht mehr das Einzige, was er in den Dienst der Bergbauern stellt. Er hat jede Menge Bilder von seinen ersten beiden Aufenthalten gemacht. Sein Alltag war – neben körperlicher Arbeit und ungewohnter Armut – ja auch von dem Reichtum der Bergwelt und dem Genuss des Augenblicks geprägt. Über diesen Gegensatz hat er inzwischen mehr als 30 Vorträge gehalten. Er sagt: »Ich bin richtig auf Tournee.« Diesen Sommer wird ein neues Vortragskapitel hinzukommen, darauf freut er sich schon.
Text: Dominik Prant
Ein toller Artikel des Outdoormagazins RAUSZEIT, dem Kundenmagazin von Basislager, Camp4, Kletterkogel, Sack und Pack und SFU.
www.dominikprantl.de
https://www.sackpack.de/blog/rauszeit-magazin/